Der siebte Beitrag in dieser Reihe hatte die Neuapostolische Kirche zum Thema.
Unter der Überschrift "Eine Bibel sein, aus der andere lesen können" wurde am 29. Dezember 2008 in den "Stuttgarter Nachrichten" über die neuapostolische Familie Krauß berichtet: Uwe Krauß gerät ins Grübeln. "Wie einen der Glaube beeinflusst, ist gar nicht so einfach zu sagen. Er ist einfach da. Manchmal reagiert man dadurch auf eine bestimmte Art und Weise, ohne groß darüber nachzudenken." Krauß lebt mit seiner Frau Ursula sowie den Kindern Una und Gordon in Neuwirtshaus, arbeitet im Vertrieb bei Trumpf. Die Wohnung sieht aus wie jede andere. Keine Glaubenssymbole, die auf den ersten Blick sichtbar wären. Ganz normal eben. "Wir sind keine Heiligen", sagt Ursula Krauß lachend. Darauf, dass die Familie neuapostolisch ist, deutet nichts hin - außer vielleicht dem Kreuz vor stilisierten Wellen und aufgehender Sonne, das eine der Bibeln ziert, die sich im Haushalt finden.
Die Bibel spielt eine wichtige Rolle in der Neuapostolischen Kirche. Sie ist Grundlage der Lehre, die auf die Wiederkehr Christi zielt. "Sie ist uns wichtig", sagt Krauß, "manchmal nehmen wir sie als Entscheidungshilfe, wenn wir nicht so recht weiterwissen." Doch bedeutender noch ist für ihn ein anderer Punkt: "Man sollte selbst eine Bibel sein, aus der der Nächste lesen kann, und so ein Vorbild geben." Ganz im Sinne der neuapostolischen Lehre, die die Gläubigen als Nachfolger der Apostel Jesu sieht.
Die Missionierung stand denn auch lange im Mittelpunkt des Glaubens, obwohl sich die Kirche nach außen abschottete. "Als ich noch ein Jugendlicher war", erinnert sich Krauß, "hat man noch ständig Leute eingeladen oder ist von Haustür zu Haustür gezogen." Das sei zwar an sich eine nette Sache gewesen, habe aber durch die Masse an Gleichgesinnten, etwa von den Mormonen oder den Zeugen Jehovas, "ein Gschmäckle" bekommen. Auch dem damals ziemlich schüchternen Jugendlichen waren die Hausbesuche eher unangenehm.Heute sieht der Alltag anders aus. "In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich unsere Kirche radikal gewandelt und geöffnet", sagt Krauß, "wir waren alle froh, als die Kirchenleitung diesen Weg eingeschlagen hat. Er hat uns nicht geschadet."
Heute wolle man andere eher durch den guten Eindruck überzeugen, den man hinterlasse: "Die Leute sollen sehen, dass wir ganz normale Menschen sind und nicht vor Heiligkeit schweben", sagt Ursula Krauß. Ein Rest Missionierung bleibt also. "Das hat jeder ein bisschen im Hintergrund", sagt Krauß. "Wenn man von etwas überzeugt ist, versucht man natürlich, es anderen schmackhaft zu machen. Da unterscheidet sich der VfB-Fan nicht vom Gläubigen." Und überzeugt ist die Familie Krauß von den Vorzügen ihrer Kirche. "Es ist alles etwas lockerer", sagt der 14-Jährige Gordon, der im nächsten Jahr seine Konfirmation feiert. Eine Parallele zu evangelischen Christen, "denen wir uns generell am nächsten fühlen", sagt sein Vater.
In der Grundschule haben die Kinder den Religionsunterricht besucht, der ökumenisch angelegt war, jetzt warten sie auf das Fach Ethik. Sonntags gehen alle in die Kirche, oft auch noch mittwochs. Der Zusammenhalt in den kleinen Gemeinden ist nach wie vor groß. In Neuwirtshaus zählen knapp hundert Mitglieder dazu, mehr als die Hälfte kommt regelmäßig. "Das Prinzip ist, dass fast jeder schon von Kindesbeinen an aktiv ist", erläutert Krauß.
Die musikalische Familie bringt sich in Chor und Orchester ein, Ursula Krauß gibt in der Gemeinde Religionsunterricht. Nur die geistigen Führer, die Apostel, sind Hauptberufler - die Gemeindevorsteher etwa arbeiten ehrenamtlich. "Auch das ist uns sympathisch", sagt Krauß, "die Predigten sind zwar vielleicht nicht so professionell wie anderswo, aber unsere Führungskräfte haben Bodenhaftung und kennen alle alltäglichen Probleme.
"Aus der Familie spricht Überzeugung - und das, obwohl sie sich ihren Glauben nicht aktiv selbst ausgesucht hat. Beide Ehepartner stammen aus neuapostolischen Familien, kennen sich aus der Gemeinde, waren in derselben Jugendgruppe. "Man hat damals die Freizeit überwiegend zusammen verbracht, die meisten meiner Freunde kamen aus der Gemeinde", erinnert sich Uwe Krauss. Heute sei auch das anders: "Gordons Freundeskreis etwa setzt sich vorwiegend aus Schulkameraden zusammen."Was also bedeutet Glaube, ohne Essens- oder Kleidervorschriften, ohne markante Symbole?
"Beim Beten wird man ruhiger, man kann sich daran halten", sagt Krauß, jetzt wieder nachdenklich. "Wenn man einen Glauben hat, setzt man andere Prioritäten und lässt sich nicht von der Angst, etwa vor einer Wirtschaftskrise, lähmen. Die Gegenwart ist ein Geschenk."
Die Neuapostolische Kirche zählt weltweit über elf Millionen Mitglieder und ist nach Katholiken, Protestanten und Orthodoxen die viertstärkste christliche Konfession. In Deutschland ist sie mit rund 370000 Mitgliedern die drittgrößte christliche Einzelkirche. In Stuttgart bekennen sich etwa 5000 Menschen in über 20 Gemeinden zu der Religionsgemeinschaft, die Ende des 19. Jahrhunderts aus der Katholisch-Apostolischen Gemeinde in Großbritannien entstanden ist. Im Mittelpunkt der neuapostolischen Lehre und der Gottesdienste steht die Wiederkunft Christi, Grundlage ist die Lutherbibel in der Übersetzung von 1984. Die geistlichen Führer werden als Apostel bezeichnet, die sich als Nachfolger der ersten Apostel Jesu verstehen. Dementsprechend ist die Kirche missionarisch ausgerichtet, um anderen das Evangelium zu verkünden. Die Amtsträger sind berufene Laien, die zum allergrößten Teil ehrenamtlich arbeiten.
Erst in den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Neuapostolische Kirche zunehmend nach außen geöffnet. Zuvor trat sie eher introvertiert mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl auf und hatte deshalb immer wieder mit Kritik und einem fragwürdigen Sekten-Image zu kämpfen. Nach dem Wandlungsprozess sind solche Stimmen inzwischen weit gehend verstummt.